Dieses Jahr will ich einem ernsteren Thema Platz auf diesem Blog zu widmen. Mir erscheint es, dass viele Menschen selbstzerstörerisch handeln und vergessen haben, wo & wie sie ihr Glück finden, sich zu stark irgendwelchen rigorosen Konventionen unterordnen statt sich selbst zu folgen. Deshalb erscheint hier nun jeden Monat einen Gastbeitrag zum bewusst offen gehaltenen Thema "Selbstliebe". Menschen teilen ihre Geschichten & Gedanken. Alle Beiträge findet ihr →hier.
Für den Juni hat →Alexandra einen ehrlichen, kritischen Text geschrieben. Vielen herzlichen Dank dafür!!
Dieser Beitrag ist von Alexandra Baumann, die im Sihltal lebt, bloggt und joggt. Über sich selbst schreibt sie das folgende: Ich liebe das Gefühl nach einem fordernden Workout, leider aber auch Schokolade und Spaghetti Carbonara. Wenn ich so gerne Sport machen würde wie schreiben, wäre auch die Energiebilanz kein Problem mehr. Über meine Erfahrungen als Ex-Couchpotato schreibe ich auf →www.runcouchpotatoesrun.com
Alexandra fotografiert von Renato Rosic
Seit ich mich erinnern kann, bin ich übergewichtig gewesen – mal mehr, mal weniger. Wie es sich anfühlt, mit einem gesunden Gewicht durch die Welt zu gehen, weiss ich nicht. Und auch nicht, wie Leute auf mich reagieren würden, wenn ich plötzlich nicht mehr „Die Dicke“ wäre. Das ist einer der Punkte, der mich immer wieder verletzt: Wenn ich neue Leute kennenlerne oder eine neue Arbeitsstelle anfange oder was auch immer – wenn jemand sich nicht an meinen Namen erinnern kann, wird er sagen „Ja weisst du, die Dicke halt“. Nicht „die mit den Locken“, „die mit dem sympathischen Lächeln“ oder „die Kleine mit der grossen Klappe“. Nein, er wird einfach „die Dicke“ gesagt und jeder weiss, wer gemeint ist.Warum änderst du denn nichts, wenn es dich so stört?
Ich weiss gar nicht, wie häufig ich das schon gefragt wurde. Hätte ich eine Antwort darauf, würde ich sie euch – und allen, die je unter ihrem Gewicht gelitten haben – geben. Der Kampf gegen das Übergewicht ist hart, zermürbend, hoffnungsvoll, notwendig, schwierig, mühsam, bereichernd…. Ich hätte den Kampf schon oft gerne aufgegeben und einfach nur noch gefressen. Aber das lässt mein Kopf dann doch nicht zu. Sehnsuchtsvoll blicke ich mein Traumkleid in Grösse 44 an, in welches ich irgendwann passen will. Schaue den leichtfüssigen Joggern unterwegs nach und wünsche mir, eine von ihnen zu sein.
Einen Schritt nach dem anderen
Wenn man sein Körpergewicht um die Hälfte reduzieren will, ist das ein derart langfristiges Projekt, dass es einem schnell einmal überfordern kann. Und ich denke, daran sind meine Abnahmeprojekte in der Vergangenheit auch immer wieder gescheitert. Ich wollte zu viel aufs Mal, habe mich überfordert, war ein paar Wochen motiviert – und war kurz darauf wieder in der Warteschlange im Mc Donalds anzutreffen, statt beim Weight Watchers Treffen. Ich weiss gar nicht mehr, wie oft ich mir schon gesagt habe „Dieses Mal wird ALLES anders. Dieses Mal schaffe ich es!“ Die Hoffnung, den Kampf zu gewinnen, ist immer wieder da. Und wird immer wieder von mir selber zerschmettert.
Run, Couchpotatoes, Run!
Vor rund eineinhalb Jahren habe ich mit einer guten Freundin, welche mit dem gleichen Problem kämpft, begonnen Sport zu machen. Als leidenschaftliche Schreiberin lag es nahe, unsere Erlebnisse in einem Blog festzuhalten. Seither ist vieles geschehen, wir haben mehrere 5-Kilometerläufe absolviert, mit Zumba angefangen und auf dem Weg viele tolle, inspirierende Menschen und ihre Geschichten kennengelernt. Ich hätte vor rund 18 Monaten nie gedacht, dass ich heute immer noch regelmässig spörteln würde. Und doch hat der Sport mein Leben auf unglaubliche Weise bereichert und ich kann mir mein Leben ohne regelmässige Bewegung nicht mehr vorstellen. Auch wenn – und das gilt es ganz klar festzuhalten – ich immer noch oft einen Tritt in den A**** brauche, damit ich vom Sofa aufstehe und raus gehe. Aber ich habe noch kein einziges Training bereut!
Ein Vorbild, eine Inspiration, mega!
Die letzten eineinhalb Jahre haben mir viele Komplimente von ganz unterschiedlichen Leuten beschert. Und wisst ihr was? Ich mag sie nicht hören! Ich sehe mich nicht als Vorbild. Ich finde mich auch nicht sonderlich inspirierend. Und warum nicht? Weil ich es wohl erst könnte, wenn auch mein Gewicht entsprechend runtergegangen ist. Irgendwie wiegt alles andere, was ich schon erreichte, viel weniger schwer, als meine Kilos. Solange ich nicht abnehme, bin ich mit mir selber auf Kriegsfuss. Solange ich so schwer bin, herrschen viel zu viele destruktive Gedanken und Unsicherheit in Alexandras Welt statt Zufriedenheit und glücklich sein. Ich habe schon so viel in meinem Leben erreichen dürfen, aber dieses eine, grosse, RIESIGE Ziel habe ich mir selber immer verwehrt: Endlich ein normales Gewicht zu haben. Ja, die Kilos gehen runter. Langsam, aber mehr oder weniger beständig. Und trotzdem bin ich nicht zufrieden mit mir. Will mehr. Schneller. Will schon am Ziel sein. Endlich.
Bin ich mehr wert, wenn ich weniger wiege?
Darum haben Komplimente zu meinem (minimen) Gewichtsverlust und meine sportlichen Aktivitäten immer einen sauren Nebengeschmack für mich. Weil ich selbst nur immer all das sehe, was ich noch nicht erreicht habe. Ich sehe nicht das Finisher-Shirt vom Berner Frauenlauf, sondern nur die Tatsache, dass es mir zu eng ist. Ich sehe nicht das Überqueren der 5-Kilometerlauf-Ziellinie, sondern nur, wie langsam ich war.
Und ich glaube, wenn ich an diesem Punkt nicht ansetzen kann, wird mein Kampf stets ein erfolgloser bleiben. Wenn ich mir selber so viel Motivation und Akzeptanz gegenüber bringen könnte, wie ich das von meiner Blog-Community erleben darf, würde ich meinen allergrössten Kritiker schachmatt setzen: Mich selber. Und solange ich nicht vollumfänglich mit mir selber kooperiere und mich „bloody awesome“ finden kann, wird mein Leben einiges schwerer sein, als es sein müsste.
Very well written. It's such a sensitive topic. Big, average, slim or skinny, weight is a topic that is very touchy. I think everyone should determine for themselves what they want and at what weight they feel best, but it's not easy to do that when the rest of the world is right there ready to judge you for being too big or too skinny.
ReplyDeleteOh ja, das Abnehmen.
ReplyDeleteWir leben in einer Welt, in der Menschen über ihr Gewicht, ihren Erfolg, ihre Leistung definiert werden. Natürlich sind alle Menschen gleich viel Wert. Sowieso, Schönheitsideale wandeln sich und wer bestimmt schon, wer erfolgreich ist? Wann lernen wir endlich, dass alle Menschen zwar nicht gleich, aber gleich wertig sind?
Ich wünsche dir von ganzem Herzen viel Erfolg und lass dich nicht unterkriegen.
Von Herzen wünsche ich Dir Erfolg und Zuversicht! Toller Bericht!!!
ReplyDeleteZeit meines Lebens bin ich schlank und hatte noch nie solche "Probleme" zu bekämfen wie Du. Meine beste Freundin ist mehr als Vollschlank und ich mag sie sehr, um ihrer selbst willen! Halte durch und glaub an Dich. Und wenn nicht?: Bist Du trotzdem sicherlich liebenswert!
LG Perdita
Vielen Dank für eure lieben Kommentare! Ich habe das Glück, in meinem Umfeld Leute zu haben, die so denken wie ihr. Aber leider ist "die Gesellschaft" wohl einfach noch nicht so weit, etwas zu akzeptieren, was "anders" ist als die Norm. Das meine ich jetzt nicht nur aufs Gewicht bezogen....
ReplyDeleteAber ja - wir werden durchhalten, auch wenn der Weg noch lange ist :-)
Euch allen einen schönen Sonntag!
Lieber Gruss
Alexandra
ich habe größe 34/36 und sage dir eines. für mich ist es auch jedes mal eine riesen (!) überwindung ins fitness studio zu gehen. jedes mal!!! am crosstrainer denke ich, oh gott wie langweilig, im bodypump kurs schiele ich auf die uhr und hoffe, dass die stunde bald vorbei ist. ABER manchmal packt mich ein richtiger flow, da genieße ich die anstrengung und den sport. ich wünsche dir ganz viele solche momente, denn sie tun nicht nur dem körper, sondern auch dem geist gut.
ReplyDeletenatürlich ist jeder mensch, egal wie er aussieht gleichwertig, ABER ein gesundes körpergefühl zu haben, sich total wohl und schön zu fühlen, ist einfach toll! ich hoffe du erreichst das, egal welche kleidergröße!
Erwartungen sind ja vor allem mit "Warten" verbunden. Warten hat mit Geduld zu tun. Beides in die reale Welt umzusetzen sind oft hart - vor allem für uns Ungeduldige. Es braucht alles eben seine Zeit, wenn es langfristig auch bleiben soll. Denn Gewohnheiten - ja, die haben mit "Wohnen" zu tun - sind eben bequem und werden zur Routine. Diese zu brechen sind schon eine Leistung.
ReplyDeleteDeshalb, liebe Alexandra, finde ich Deinen Text so wunderbar schlank und ehrlich, dass einem warm ums Herz wird. Ganz ohne Warten und Wohnen.
Bleiben wir auf Kurs, dem langen, zeitraubenden Kurs, der sich aber mal so auszahlen wird, dass wir beide wie schlanke Gazellen über die Ziellinie laufen... leicht und beschwingt. Dies tun wir zwar jetzt schon, aber mehr mental. Ist aber immerhin ein Anfang.
Herzlich laufende Grüsse, Christian